Das andere Gedächtnis
„Wir befinden uns nämlich in einer besonderen historischen Situation. Bald, spätestens in einigen wenigen Jahren, gibt es keine Zeugen mehr. Keine lebendigen Zeugen. (…) Das ist natürlich nichts Neues. Immer schon ist Gedächtnis Geschichte geworden. Wir brauchen jetzt junge Schriftsteller, die das Gedächtnis der Zeugen, das Autobiografische der Zeugnisse, mutig entweihen. Jetzt können und sollen Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden.“ (Jorge Semprun, Was war und was ist) „Wie ich schreibe? … Immer gegen das Vergessen und das Vergessen des Vergessens“ (Michel Butor, schreiben.leben). Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist … So könnte man demgegenüber mit Johann Strauß die österreichische Erinnerungskultur – nicht zuletzt im heurigen „Gedankenjahr“ – charakterisieren. Der Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses gehört zu den zentralen Anstrengungen einer Gesellschaft, ist wesentliches Mittel zur Konstruktion von Sinn, zur Formung von Identität. Gestalt, Qualität und Darstellungsformen kultureller Erinnerung aber werden bestimmt von politischen und sozialen Interessen, ebenso vom Wandel technischer Medien. Nicht selten quer zu den offiziellen Erzählungen von Geschichte stellen Kunst und Literatur andere Modelle von Erinnern vor. Als „menschheitsgeschichtliches Gedächtnis“ (Christoph Hein) handeln sie von dem, was nicht aufgegangen ist in der Ordnung, vom Rest, vom Abfall, vom Ausgeschlossenen, Verschwiegenen. Das „andere“ Gedächtnis der Kunst wird so auch zu einem Gedächtnis „des Anderen“. Beim Literaturfrühstück – wie immer bei Kaffee und Gebäck – wird die Autorin Petra Nagenkögel verschiedenen Strategien, Konzeptionen und Metaphoriken von Erinnern sowie der Frage seiner Darstellbarkeit in Texten des 20. Jahrhunderts (von Peter Weiss, Imre Kertesz, Dieter Forte, Libuse Monikova, Herta Müller u.a.) nachgehen.
Do 03. November 2005, 10:30 Uhr | |
Literaturhaus Salzburg | |
Erste Lektüren
„Was man früh gelesen hat, löst sich oft seltsam auf. Es bleibt nicht im Buch, hat auch keinen davor, der es erst geschrieben hat. Man ist als Kind mit Haut und Haaren hier durchgewandert, ohne Sinn für Worte; man nahm sie gar nicht wahr. Hat so gelesen, wie man jetzt einen spannenden Film sieht, war an ein altes Bildersehen angeschlossen. Da man noch kein Ich war oder nur zuweilen, brauchte man auch keinen Helden, das kam erst später.“ Ernst Bloch, Das Wirtshaus im Spessart
In SALZ Erste Lektüren rufen sich Autor:innen in Erinnerung, was es bedeutet, die Welt der Bücher zu entdecken, ein Buch das erste Mal aufzuschlagen. Sei es ein ...
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