Eine Nacht bei Venus
Im vierten Jahrhundert vor Christus schuf der Bildhauer Praxiteles für das Aphrodite-Heiligtum auf der Insel Knidos ein Standbild, das die Göttin unmittelbar vor dem Bade, also vollständig nackt, darstellt. Dieser erste weibliche Vollakt der griechischen Kunst sollte Literatur- und Geistesgeschichte schreiben: Schon in der Antike verbindet sich mit ihm die Sage von der Statuenliebe (ein Jüngling verfällt der marmornen Göttin und verbringt eine Nacht mit ihr im Tempel). Das Sujet lebt im Mittelalter weiter, die schöne Skulptur gilt nun als Blendwerk des Teufels, der sich auf diese Weise der Seelen unvorsichtiger Männer bemächtigen will. Auch die Allegorien der Fleischeslust („Luxuria“) in der mittelalterlichen Kunst zitieren die Ikonographie des antiken Bildnisses. Auf die Entdämonisierung seit der Renaissance antwortet die Romantik – etwa bei Eichendorff und Heine – mit einer Wiederentdeckung der „unheimlichen“ Wirkung, die das nackte Marmorbild ausstrahlen soll. Beim Literaturfrühstück – wie immer bei Kaffee und Gebäck, solange der Vorrat reicht – wird Manfred Kern, Literaturwissenschafter an der Universität Salzburg, die Rezeptionsgeschichte der „Knidia“, an der sich grundlegende Phantasmen des ästhetischen und erotischen Begehrens ablesen lassen, an ausgewählten Text- und Bildzeugen reflektieren.
Do 06. April 2006, 10:30 Uhr | |
Literaturhaus Salzburg | |
Erste Lektüren
„Was man früh gelesen hat, löst sich oft seltsam auf. Es bleibt nicht im Buch, hat auch keinen davor, der es erst geschrieben hat. Man ist als Kind mit Haut und Haaren hier durchgewandert, ohne Sinn für Worte; man nahm sie gar nicht wahr. Hat so gelesen, wie man jetzt einen spannenden Film sieht, war an ein altes Bildersehen angeschlossen. Da man noch kein Ich war oder nur zuweilen, brauchte man auch keinen Helden, das kam erst später.“ Ernst Bloch, Das Wirtshaus im Spessart
In SALZ Erste Lektüren rufen sich Autor:innen in Erinnerung, was es bedeutet, die Welt der Bücher zu entdecken, ein Buch das erste Mal aufzuschlagen. Sei es ein ...
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